Aktives Zentrum?

Zur Wandlung eines Begriffs: Älterwerden in der Aktivgesellschaft

Schon als das Amerlinghaus im Jahr 1975 besetzt und 1978 nach der Revitalisierung an den Trägerverein des Kulturzentrums Spittelberg übergeben wurde, war die intergenerationelle Ausrichtung eine der tragenden Säulen der inhaltlichen Konzeption des Hauses. Allerdings sahen Ende der 1970er Jahre und in den 1980er Jahren nicht nur Wien und der Spittelberg anders aus, sondern die Welt war insgesamt eine andere. Wien war eine graue Stadt ohne soziale Treffpunkte, aber auch ohne die überbordende durchkommerzialisierte Lokalkultur von heute. Die Bausubstanz am Spittelberg war baufällig und sollte abgerissen werden, die soziale Struktur im Grätzl unterschied sich grundlegend von der heutigen zahlungskräftigen Bewohner*innenschaft. Und so war das Amerlinghaus in den ersten Jahren tatsächlich ein Stadtteilzentrum, in dem sich alle Generationen ein Stelldichein gaben und es u.a. darum ging, die Isolation von älteren Menschen zu durchbrechen und miteinander selbstbestimmt tätig zu sein.

In den 1990er Jahren wurde dann das Aktive Zentrum als zunächst konzeptionell, später auch räumlich abgetrennter Bereich ins Leben gerufen. Nun hat sich im Februar 2020 unsere Kollegin Christa Witz, Seele und Motor des Aktiven Zentrums, in die wohlverdiente Pension verabschiedet. Eine Zäsur, die es sowohl erlaubt als auch nötig erscheinen lässt, einen Reflexionsprozess über die gesellschaftlichen Veränderungen, denen das Alter als Lebensabschnitt in den vergangenen Jahrzehnten unterlegen ist, anzustoßen. Der aufgrund der Covid19-Pandemie eingeschränkte Betrieb im Kultur- und Kommunikationszentrum Amerlinghaus ermöglichte es uns, im Jahr 2020 ausführlich über Neukonzeptionierungen nachzudenken und hierbei etwas stärker in die Tiefe zu gehen.

Anhand zweier zentraler Begriffe der Senior*innenarbeit der letzten Jahrzehnte sollen nun wesentliche Veränderungen dargestellt werden, die das Alter diskursiv sowie älter werdenden Menschen selbst konkret betreffen. Ausgehend vom Schlagwort des lebenslangen Lernens, das zunehmend weniger mit dem Begehren nach Erkenntnis und neuen Erfahrungen als mit flexibler Einsetzbarkeit am Arbeitsmarkt verbunden ist, wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Aktivität und der Aktivierung als Anforderung, die zunehmend auch an ältere Menschen gestellt wird, in gebotener Kürze verhandelt.

Lebenslanges Lernen … Recht oder Bürde?

So hält Christa Witz bereits im Tätigkeitsbericht des Aktiven Zentrums von 2007 kritisch fest: „Begleitet und forciert wird Bildung im Alter vom Anspruch nach lebenslangem bzw. lebensbegleitendem Lernen. Es geht um eine breitere Partizipation der Bevölkerung an der sich rasch entwickelnden ,Informations- und Wissensgesellschaft‘. Dabei ist allerdings zu beobachten, dass in der Diskussion um das lebenslange Lernen dieses eine Einengung auf das Lernen zum Zwecke der Steigerung wirtschaftlicher Produktivität erfährt, das heißt dass lebenslanges Lernen vornehmlich als Investition in Humankapital verstanden wird.“ Heute würden wir noch einen Schritt darüber hinaus gehen und die These wagen, dass durch die Entgrenzung von Arbeitszeit und Freizeit nicht mehr klar entschieden werden kann, was Menschen für sich selbst und was sie für die Arbeit lernen. Dieser Prozess ist eingebettet in eine aktivierende Transformation des Sozialstaates, die auf der Subjektivierungsseite die Formierung von hyperflexiblen Arbeitskraftunternehmer*innen zum Ziel hat, die sich an alles anpassen, was ihnen abverlangt wird. Diese Aktivierungsagenda greift seit mehr als zwei Jahrzehnten auch auf die Vorstellung dessen, wie das Alter gestaltet werden soll, über.

Active Aging … vom Ausbruch aus der Altersisolation zur gesellschaftlichen Verpflichtung zur Gemeinwohldienlichkeit?

Das Alter als eigenständiger und extra benannter Lebensabschnitt existiert nicht quasi naturwüchsig schon immer und für immer in der gleichen Art und Weise. Vielmehr gibt es historisch spezifische Vergesellschaftungsformen des Alters entlang historisch unterschiedlicher Weisen der Subjektformierung. So tritt Alter als eigenständige Lebensphase als drittes Lebensalter erstmals als soziales Phänomen der industriegesellschaftlichen Moderne in Erscheinung, da erst in der Moderne die Lebenserwartung steigt, andererseits jedoch die Leistungsfähigkeit im Alter abnimmt. Man könnte auch sagen, erst die Sozialpolitik macht aus den Alten einen eigenen Stand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es in Österreich die ersten Entwürfe zur Einführung einer obligatorischen Alters- und Invalidenversicherung für Arbeiter*innen, doch bei der Umsetzung kommt der Erste Weltkrieg dazwischen.

Nach dem Ersten Weltkrieg wird Altersarbeitslosigkeit zum Problem, das sich massiv verschärft, da die Produktion stark beschleunigt und rationalisiert wird. Zum anderen erodieren feudale Verpflichtungsverhältnisse sowie der erweiterte Familienhaushalt als Produktions- und Reproduktionsgemeinschaft zusehends. Beide Faktoren führen zur Gefahr eines Lebensabends in materieller Hilfsbedürftigkeit für viele Menschen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Vorstellung des arbeitsfreien Ruhestandes – d. h. eines entpflichteten Lebensfeierabend – diskurs- und politikmächtig. In den Genuss dieses Ruhestandsdispositives kommen jedoch nur zwei bis drei Generationen, da ab Beginn der 1990er Jahre im Zuge der aktivierenden Transformation des Sozialstaates, der die Formierung einer Gesellschaft von Aktivbürger*innen zum Ziel hat, das Recht auf einen Lebensfeierabend in Frage gestellt wird. Die Agenda einer aktivierenden Sozialpolitik sowie einer Erziehung zur Marktlichkeit greift schrittweise vom Arbeitsmarkt auf andere Bereiche über.

Seit Ende der 1990er Jahre wird auf europapolitischer Ebene das Motto Active Aging kreiert, alte ruheständische Lebensführungsmuster werden problematisiert. Es kommt zu einer grundlegenden Neuverhandlung des Alters und zur Propagierung eines neuen Bildes vom aktiven Alter. Als Begründung wird in erster Linie ein demographischer Wandel herangezogen, der aus zwei von einander getrennten Dynamiken besteht. Das ist erstens ein Wandel in der Altersstruktur, der aus einer niedrigen Geburtenrate gemeinsam mit einer steigenden Lebenserwartung resultiert, was zu einer Zunahme des Anteils der älteren Menschen in der Gesellschaft führt. Zweitens lässt sich ein Strukturwandel des Alters selbst beobachten, es kommt zu einer fortschreitenden Verjüngung des Alters sowie einer Verlängerung des Ruhestandslebens. Dieses arbeitsfreie halbwegs abgesicherte Leben ist den neoliberalen Strateg*innen ein Dorn im Auge.

Der Strukturwandel des Alters wird als Problem formuliert, wobei er gleichzeitig auch ein Teil der Lösung seines angeblichen Problemcharakters sein soll. Das neue Nicht-Alter der ehedem Alten soll als sozialpolitische Ressource angezapft werden. Der demographische Wandels wird von der Bedrohung zur Herausforderung, ja sogar zur gesellschaftlichen Chance umgedeutet. Die Mobilisierung der Potenziale des Alters soll die funktionale und normative Grundlage eines neuen, dem demographischen Wandel Rechnung tragenden Generationenvertrages sein und wird als Anspruch nicht nur an die sozialstaatlichen Institutionen, sondern auch an die alten Menschen formuliert. So gesehen ist „Get active“ eher Drohung denn Verheißung, denn der vormals rebellische Unruhestand wird zum Produktivitätsdispositiv gewendet.

Mit der Propagierung des produktiven Alters geht ein Aufwertungsversprechen einher, das jedoch enttäuscht wird. Die öffentlich in Aussicht gestellte Überwindung negativer gesellschaftlicher Altersbilder und -zuschreibungen aufgrund der aktiv zur Schau gestellten Leistungsfähigkeit und Gemeinwohldienlichkeit älterer Menschen findet nicht statt. Gewinner*innen sind bestenfalls Alte, die ressourcenreich sind, eine hohe Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital haben und so dem neuen Normativ des eigenverantwortlich sozialverantwortlichen Aktivbürgers entsprechen können. Zu den Verlierer*innen gehören oft Frauen, die oft niedrige Pensionen beziehen und ohnehin durch Sorgetätigkeiten überlastet sind – ganz ohne aktivierende politische Intervention. Die Propagierung des produktiven Alters birgt also großes ungleichheitsreproduzierendes Potenzial.

Die Rückführung des Niveaus der gesetzlichen Pensionsversicherung bedeutet nicht nur eine Zunahme der Altersarmut. Selbst jene kleinen Autonomiegewinne, die auch proletarische und subproletarische Teile der Bevölkerung gewonnen hatten, jenes kleine „Stück eigenes Leben“, das durch die teilweise Demokratisierung des Ruhestandes entstanden war, sollen zurückgenommen werden. „Active Aging erweist sich bei genauerem Hinsehen nicht zuletzt als eine geschlechtsspezifisch strukturierte, klassenpolitische Distinktions-, Behauptungs- und Herrschaftsstrategie.“ (Tina Denninger, Silke van Dyk, Stephan Lessenich, Anna Richter, Leben im Ruhestand. Zur Neuverhandlung des Alters in der Aktivgesellschaft, transcript Verlag, Bielefeld 2014, Seite 22)

Ausblick ins neue Jahrzehnt

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir in Zeiten des Sozialabbaus, der Pensionskürzungen, der Erhöhung des Pensionsantrittsalters und der neoliberalen Aktivierungsagenda nicht der Ideologie der Sinngebung durch Arbeit und Leistung aufsitzen wollen. Kollektive Selbstermächtigung und das Aufbrechen der Isolation und Vereinsamung im Alter stehen noch immer im Mittelpunkt einer Konzeption des intergenerationellen Dialogs. Viel eher jedoch als um lebenslanges Lernen und Aktivierungsprogramme geht es heute um das Recht auf Ruhestand und Entschleunigung mittels eines existenzsichernden arbeitsfreien Einkommens (nicht nur aber im besonderen) im Alter einerseits und um selbstbestimmte Tätigkeit andererseits. Wir sind uns selbst Sinn genug!

Kategorie: Materialien, Gutes Leben für Alle, Alter, Intergenerationelles, Aktives Zentrum