Gesellschaftliche Aspekte der Covid19-Krise im Jahr 2020

Das Jahr 2020 war gesamtgesellschaftlich und weltweit von den Auswirkungen der Covid19-Krise geprägt. Spätestens im März 2020 war auch in Europa klar, dass dieser spezielle Corona-Virus und die durch ihn verursachte Krankheit eine weltweite Pandemie darstellen. Die dadurch ausgelöste Krise findet nicht im luftleeren Raum statt. In den letzten Jahren hatten wir es pausenlos mit Krisen zu tun: die Klimakrise, die Finanzkrise, die Krise der Demokratie, die Krise der Repräsentation … der Krisenmodus war uns bereits vor 2020 zur Normalität geworden.

Allerdings fällt die Covid19-Krise relativ deutlich aus diesem Rahmen. Sie kann durchaus als Jahrhundertkrise bezeichnet werden. Dies ist sie nicht nur durch die gesundheitlichen Verheerungen, die der Virus hervorruft, sondern vor allem auch durch die massiven und außergewöhnlichen Maßnahmen, die Öffentlichkeit und Politik als Reaktion darauf ergriffen haben. Noch bis vor kurzem schien es z.B. in Bezug auf den Klimawandel undenkbar, dass der Flugzeugverkehr weltweit drastisch reduziert werden könnte. Im Zuge der Covid19-Pandemie sind nun weite Teile von riesigen Flughäfen verwaist. Dass der Plan für die dritte Piste am Flughafen Wien-Schwechat kürzlich gestorben ist, hängt möglicherweise ebenfalls nicht ausschließlich mit der Ökopolitik der Grünen in der Regierung, sondern darüber hinaus mit der drastischen Reduzierung des Flugverkehrs zusammen.

Prinzipiell existieren zwei unterschiedliche große Erzählungen zur Deutung von Krisen parallel zueinander, die nicht nur wenig miteinander vermittelt sind, sondern sich sogar widersprechen. Die eine betrachtet Krisen als Situationen, die große Unsicherheit und Verunsicherung produzieren und daher große Angst bei weiten Teilen der Bevölkerung auslösen. Die andere Deutung spricht von der Krise als Chance für Veränderung. Es handelt sich um jeweils eigene Krisendiskurse mit einer jeweils eigenen Diskursdynamik. Beide reduzieren jedoch komplexe soziopolitische Verhältnisse auf vereinzelte Faktoren. Im Fall der Covid19-Krise scheint die Angsterzählung eindeutig die vorherrschende zu sein.

Die Regierungen ebenso wie andere politisch einflussreiche Player*innen arbeiten fleißig daran, dass der Eindruck entsteht, es gäbe keine Alternativen zu den ergriffenen Maßnahmen, als würden diese von der Wissenschaft als einzig objektiv sinnvolle diktiert. Das Sag- und Denkbare wird spürbar enger geführt, Kritiker*innen schnell als Corona-Leugner*innen oder Verharmloser*innen diffamiert. Es sind jedoch politische Maßnahmen, die ergriffen werden, die nicht einfach wissenschaftlich unumgänglich sind, sondern immer auch bestimmte gesellschaftliche Machtverhältnisse stützen. Nicht der Virus oder die Wissenschaft diktieren die Covid19-Politik, ganz andere Maßnahmen mit ganz anderen Prioritäten wären sehr wohl denkmöglich.

Das lässt sich z.B. sehr schön daran zeigen, dass die Politik bemüht ist, einerseits so wenig wie möglich direkt in Lohnarbeitsverhältnisse einzugreifen und andererseits in erster Linie Freizeitbetätigungen zu beschränken. Oder am niedrigen Stellenwert des gesamten Kulturbereichs: Baumärkte und Möbelhäuser hatten im Jahresschnitt wesentlich weniger Schließzeiten als Kulturinstitutionen. Trotz ausgefeilter Corona-Konzepte sowie der Tatsache, dass die Ansteckungszahlen im Kulturbereich niedrig waren – zumindest solange das mithilfe von Contact Tracing noch feststellbar war, bevor alles aus dem Ruder lief. Auch Seilbahnbetreiber sind ganz offensichtlich einflussreicher als der Kulturbereich, mit dem sich die „Kulturnation“ Österreich so gerne schmückt.

Unzählige Lebensbereiche sind in mannigfacher Weise von der Politik zur Pandemiebekämpfung betroffen. Manches ist völlig neu, während viele andere Entwicklungen bereits zuvor vorhanden waren und durch die Pandemie beschleunigt wurden, wie z.B. die Digitalisierung des gesamten Lebens, die in Österreich vor Beginn der Pandemie in zahlreichen Bereichen eher schaumgebremst vor sich ging.

Auf einige Aspekte, die uns gesellschaftlich und politisch bedeutsam erscheinen sowie unsere Arbeit im kulturellen und sozialen Bereich im abgelaufenen Jahr – aber eben auch als mögliche Veränderungen in Hinkunft – betreffen, wollen wir im Folgenden schlaglichtartig eingehen. Der Fokus liegt auf der Krisenbewältigungspolitik in Österreich, was aber durchaus einige Blicke über den nationalen Tellerrand hinaus mit einschließt.

#1 Naturkatastrophenmetaphorik und Demokratieabbau

Krisen sind immer die Stunde der Exekutive. In Krisen wächst die Zustimmung der Bevölkerung zur Regierung stark an und die Oppositionsparteien treten weniger öffentlich in Erscheinung. Im Zuge der Covid19-Krise nickten die Parlamente die einschneidenden Maßnahmen und die zumindest in den reichen Ländern gigantischen „Rettungspakete“ einfach ab. Es wird der Eindruck erweckt, Krisensituationen ließen sich am besten durch autoritäres Durchregieren bewältigen. Dieses im Alltagsverstand vieler Menschen bereits vorhandene Muster wird durch die Handhabung der Covid19-Krise verstärkt. Speziell in Österreich wurde während des ersten Lockdowns von März bis Mai explizit Politik mit der Angst gemacht.

Demokratiepolitisch bedenkliche Entwicklungen wurden in Gang gesetzt. So erteilte der österreichische Nationalrat dem Gesundheitsminister Rudi Anschober mit dem Covid19-Maßnahmegesetz im März 2020 zwei Verordnungsermächtigungen, die inhaltlich nur minimal definiert sind. Das Corona-Management der österreichischen Bundesregierung bestand im Frühjahr aus einem explizit nationalistischen Diskurs, so war Bundeskanzler Sebastian Kurz beispielsweise öffentlich der Meinung, dass der Virus mit dem Auto nach Österreich reist. Dieser Nationalismus wurde auch kompetitiv geframt, gerne war die Rede davon, wie gut gerade Österreich die Krise bewältige, was durch ein Erlöser-Narrativ speziell vor Ostern ergänzt wurde. Während des ersten Lockdowns von März bis Mai hielt die österreichische Regierung 90 Pressekonferenzen ab, war also als Retterin omnipräsent.

Nachdem die Polizei im Frühjahr wahllos Strafen wegen Verstößen gegen Covid19-Verordnungen verteilte und Jurist*innen auf eine mögliche Nicht-Verfassungskonformität der Verordnungen hinwiesen, wurde dies von Sebastian Kurz als „juristische Spitzfindigkeiten“ abgetan. Während es jedoch im Frühling und Sommer 2020 ganz so aussah, als wäre alles richtig gemacht und Österreich hervorragend durch die multiple Krise manövriert worden, beginnt der Glanz gegen Jahresende zu bröckeln und in der Folge die Umfragewerte der Regierungsparteien zu sinken. Der Lack ist ab, es wird offensichtlich, dass das österreichische Corona-Management weit weniger glorios ist als proklamiert.

#2 There‘s no such thing as society?

Die Ideologie vom Individuum hat sich blamiert: das triumphale Individuum ist einem schutzbedürftigen Individuum gewichen. Gesundheit wird wieder verstärkt als Bereich der öffentlichen Fürsorge wahrgenommen. Die Privatisierung im Gesundheitswesen hat sich als mörderisch erwiesen. Es ist klar, dass der Markt nicht alles regelt. Es gibt wieder ein Wir.

Die Gesellschaft kehrt ins Bewusstsein zurück, aber nicht als selbsttätiges Kollektiv, das sich aus denkenden, handelnden und empathischen Individuen zusammensetzt, die sich gerne um einander kümmern, sondern als Verordnungs- und Maßnahmestaat im Ausnahmezustand. Der Solidaritätsbegriff, der hier staatlicherseits proklamiert wird, hat nichts mit kollektiver Selbsttätigkeit zu tun, sondern wird von oben verordnet. Die Angst vor den Körpern der Anderen wird ebenso geschürt wie die Angst vor der Verantwortungslosigkeit der Anderen.

Nicht die Regierung ist schuld an der Misere, weil sie vielleicht die falschen Maßnahmen ergriffen hat oder zu zögerlich war, da sie zu viele Interessen bedienen wollte, sondern die Masse der normalen Menschen, die sich angeblich einfach nicht an die Regeln halten wollen. Jede Rede von Freiheit gerät in den Verdacht, den Glauben in die Sicherheit zu beeinträchtigen. Verstärkt wenn nicht gar hervorgerufen wird dies durch die völlige Intransparenz, was die Datenlage betrifft: Welche Daten werden überhaupt erhoben? Wer steckt sich wo in welcher Menge an? Es bedarf hartnäckigen detektivischen Spürsinns, um gesicherte Daten herauszufinden. Message Control at it‘s best.

#3 In privaten Unternehmen ist der Virus weniger ansteckend?

Nur ein starker Staat kann uns vor dem Virus schützen? In Lohnarbeitsverhältnisse greift der Staat so gut wie nicht ein. In jenen Betrieben, die keine Geschäfte oder öffentliche Verkehrsmittel sind, gibt es keine Maskenpflicht und keine Beschränkungen, wie viele Menschen sich in einem Raum aufhalten dürfen. Die Unternehmen können Homeoffice gewähren, sie müssen aber nicht. Dies führt zu keinem Skandal, sondern wird als normal empfunden.

Hierbei zeigen sich die wahren Machtverhältnisse, ganz so als bestünde innerhalb der privaten Betriebe rechtsfreier Raum. Die meisten Ansteckungen finden innerhalb der Haushalte statt, heißt es. Aber wie kommen sie dort hinein während eines Lockdowns, wenn alle Lokale, die meisten Geschäfte, die Schulen, die Freizeiteinrichtungen etc. geschlossen sind und die Menschen im öffentlichen Verkehr Masken tragen? Die Rede von den undisziplinierten Körpern verdeckt die Tatsache, dass in Fabrikhallen und Großraumbüros auch während der soften und harten Lockdowns weiter gearbeitet wird, als gäbe es keine Pandemie.

#4 Nur das warenförmige soziale Bedürfnis zählt

Sich treffen mit Menschen, sei es zu zwanzigst oder zu dreihundertst, ist verboten. In Möbelhäuser zu tausendst einkaufen gehen hingegen ist nicht nur erlaubt, sondern außerhalb der Lockdowns ein wichtiges und legitimes Bedürfnis. Wer Partys feiert, ist ein/e gemeingefährliche Gefährder*in, die oder der den Volkskörper gefährdet. Wer aber shoppen geht, leistet einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag, indem sie oder er unsere Wirtschaft schützt und stützt. Dieser Topos ist in der Öffentlichkeit relativ unwidersprochen.

Im öffentlichen Diskurs existieren keine sozialen nicht warenförmigen legitimen Bedürfnisse. Kollektivität, die über die Familie hinausgeht, als menschliche Tätigkeit, die weder der Lohnarbeit noch dem Konsum dient, erscheint als etwas Marginales. Am ehesten schaffen es noch die mannigfachen Sportvereine, sich Gehör zu verschaffen.

Das Versammlungs- und Demonstrationsrecht stellt immer noch eine Ausnahme dar, die von der Verfassung garantiert wird. Plausibel erscheint diese Ausnahme vielen Menschen, die sich in Sozialen Medien äußern, in Anbetracht der Pandemie nicht mehr. Dies ist eine gefährliche und demokratiepolitisch bedenkliche Entwicklung.

#5 Entkörperlichung des sozialen Raumes

Neben der Tatsache, dass der Überwachungskapitalismus und die Extraktion von Daten als Rohstoff einen ungeheuren Schub erfahren, da in Zeiten des Lockdowns auch Menschen ihre Angelegenheiten über das Internet regeln, die das bis dato eher nicht taten, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt der Digitalisierung, die während der Pandemie vorangetrieben wird, die Entmaterialisierung des soziales Raums.

Universitätsvorlesungen, Schulunterricht, Diskussions- und Kulturveranstaltungen, Konferenzen und Arbeitstreffen usw. finden in großer Zahl ununterbrochen im digitalen Raum statt. Menschen treffen sich nicht mehr als Körper, sondern via Internet quasi entmaterialisiert, was eine ungeheure Verarmung an kommunikativen nichtverbalen Anteilen bedeutet.

Das Begehren nach körperlicher Begegnung wird in Zeiten der Pandemie in sozialen und anderen Medien nachgerade als kriminelles Bedürfnis gebrandmarkt. Welche langfristigen gesellschaftlichen Folgen diese Stigmatisierung des körperlichen Kontakts zeitigt, wird uns noch lange beschäftigen.

#6 Der politische Stellenwert von Kultur ist gering

Als es im Mai 2020 zur schrittweise Lockerung des ersten Lockdowns kam, lag der Kulturbereich nach Beherbergung und Gastronomie an dritter Stelle beim Beschäftigungsrückgang, es gab minus 12,5 Prozent oder 5.000 Beschäftigte im Kulturbereich weniger als im Vorjahr.1 Es herrscht quasi Beschäftigungsverbot für Kulturschaffende und Vortragende. Ende Mai sind beim Härtefallfonds bereits 285.000 Anträge eingelangt, das sind um einiges mehr als die Hälfte aller Selbständigen.

Mitte Mai 2020 tritt die Grünen-Politikerin Ulrike Lunacek als Staatssekretärin für Kunst und Kultur nach heftiger Kritik am Corona-Management der Regierung aus dem Kulturbereich zurück. Ihr folgt Andrea Mayer nach, die am 20. Mai 2020 als Kunst-und Kulturstaatssekretärin angelobt wurde.

Am 28. Mai wird der Überbrückungsfonds für Künstler*innen angekündigt. Sie sollen einen Pauschalbetrag von 1.000 Euro pro Monat für sechs Monate bekommen ‒ höhere einkommensbezogene Beträge stehen nicht zur Diskussion. Mit der Abwicklung wird die Sozialversicherung für Selbständige betraut. Problematisch daran ist, dass ein großer Teil der Künstler*innen nicht in der SVS versichert ist.

Ende Oktober stellt die IG Kultur Österreich in einer Stellungnahme fest: „Die Rechtsgrundlage für die neuen Verschärfungen liegen endlich vor. Fakt ist, Kulturakteur*innen können sich auf nichts mehr einstellen, außer dass es immer rigider wird. Verlässliche Informationen werden last-minute veröffentlicht, mit dem Bewirtungsverbot bei Veranstaltungen fällt eine gerade für kleine Kulturvereine weitere zentrale Einnahmenquelle weg, Entschädigungen bzw. Unterstützungen existieren nur im Ankündigungsstatus. Zu behaupten, die aktuellen Verschärfungen hätten keine großen Auswirkungen auf professionelle Kunst und Kultur, ist ein Affront. In der freien Kulturszene stößt die Aufrechterhaltung professioneller Arbeit an die Grenzen des Tragbaren. (…)

Bislang ist kein größerer Cluster bekannt, der von einer Kulturveranstaltung ausgegangen wäre. Dennoch werden gerade bei „Veranstaltungen“ die Daumenschrauben besonders fest angezogen. Ob es sich dabei um eine private Party oder ein professionelles Kulturangebot handelt, wird vollkommen außer Acht gelassen. Beides gilt als „Veranstaltung ohne Sitzplätze“ und unterliegt denselben Regeln. Kunst- und Kulturangebote werden auf Ausstellungen und Veranstaltungen mit „zugewiesenen und gekennzeichneten Sitzplätzen“ reduziert. Alles was in Kunst und Kultur von Austausch, von Partizipation, von Interaktion lebt wird rhetorisch ausgeblendet und finanziell ausgehungert.“

Im Dezember wird von der Bundesregierung ein mit 300 Millionen dotierter Veranstaltungsschutzschirm angekündigt. Er soll es ermöglichen, dass Veranstalter*innen aufgrund von coronabedingten kurzfristigen Absagen nicht in finanzielle Probleme schlittern. Obwohl zuerst geplant war, den Veranstaltungsschutzschirm nur für kommerzielle Veranstalter*innen zu öffnen, konnte dank der Arbeit der IG Kultur erreicht werden, dass auch gemeinnützigen Träger*innen prinzipiell antragsberechtigt sind. Viele der gemeinnützigen Veranstalter*innen werden dennoch ausgeschlossen. Denn als Einnahmenuntergrenze bzw. Kostenuntergrenze wurde eine Hürde von 15.000 Euro definiert. Das hat man im gemeinnützigen Bereich bei einzelnen Veranstaltungen selten.

#7 Wen trifft das Anwachsen der Armut und der prekären Existenz?

Schon lange gibt es Tendenzen zur Prekarisierung der Arbeit und des Lebens. Mit der Covid19-Krise kommt es zum vermehrten Sichtbarwerden von Prekarität, aber auch zum Anwachsen derer, die unter prekären Bedingungen leben müssen. Zwar wird das Instrument der Kurzarbeit von vielen Firmen genutzt, dennoch steigen Arbeitslosigkeit und damit verbunden Armut an. Im ökonomischen Ausblick der OECD2 von Juni 2020 wird festgestellt, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Österreich trotz Kurzarbeit besonders hoch war. Dabei trifft das Anwachsen der Arbeitslosigkeit nicht alle Bevölkerungsgruppen im selben Ausmaß.

So war der Beschäftigungsrückgang von März bis Mai bei nicht-österreichischen Staatsangehörigen mit minus 9,2 Prozent im Vergleich zu minus 3,9 Prozent bei österreichischen Staatsbürger*innen deutlich höher ausgeprägt. Laut WIFO3 entfielen 90 Prozent der verlorenen Arbeitsplätze in diesem Zeitraum auf Arbeiter*innen. Und die Politikwissenschafterin Ingrid Mairhuber4 stellt fest, dass die Arbeitslosigkeit bei Frauen zwischen 55 und 59 Jahren – also 5 Jahre vor dem gesetzlichen Pensionsantrittsalter –, die im Jahr 2019 noch 9,5% betrug, im ersten Halbjahr 2020 auf 11,8% anstieg, was natürlich Auswirkungen auf die Pensionshöhe und damit auf die Altersarmut von Frauen hat. Schon diese wenigen Zahlen zeigen, dass die ökonomischen Verschlechterungen die ohnehin schon stärker prekarisierten Gruppen der Bevölkerung härter treffen.

Selbst die offiziell verordnete Solidarität gilt nicht für alle im gleichen Maße. Während die für ältere Menschen ausgerufene allgegenwärtige Sorgepflicht von diesen selbst oft als bevormundend und entmündigend empfunden wird, sind Sorgeappelle für andere besonders gefährdete Gruppen wie Obdachlose, Gefängnisinsassen oder Asylwerber*innen in Massenunterkünften deutlich seltener vernehmbar.

Die einzigen beiden Branchen, in denen es zu Beschäftigungszuwachs während der Pandemie kommt, ist zum einen das Gesundheits- und Sozialwesen und zum anderen der Informations- und Kommunikationsbereich. Hier zeigt sich wiederum, dass die Covid19-Krise den bereits zuvor eingeleiteten Strukturwandel beschleunigt.

#8 Triage nach Verwertungstauglichkeit?

Dass Menschen im Neoliberalismus nach Nützlichkeitserwägungen sortiert und bewertet werden, ist nichts Neues. Die Umgestaltung der Triage während des Höhepunkts der Pandemie in Norditalien darf jedoch als qualitativ neu gelten. Am 7. März 2020, als die Kapazitäten in den Krankenhäusern in Norditalien überschritten waren, gab die italienische Gesellschaft für Anästhesie , Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin Triage-Empfehlungen heraus, die durchaus sozialdarwinistisch genannt werden können. Darin gibt es folgende Formulierung: „Es könnte notwendig werden, eine Altersgrenze für die Aufnahme auf Intensivstationen zu bestimmen. Dabei geht es darum, primär Ressourcen zu sparen für Patienten die erstens die höchsten Überlebenschancen haben und zweitens bei denen die meistens Lebensjahre gerettet werden können.“5

Das Prinzip der Triage sagt noch nichts über die in ihr enthaltene Ethik aus. An sich ist Triage im medizinischen Bereich nicht Ungewöhnliches. Sie legt fest, wer z.B. bei Massenkarambolagen auf Autobahnen in welcher Reihenfolge behandelt wird. Hierbei gilt das Kriterium der Überlebenschancen … allerdings nicht das Kriterium der voraussichtlichen Lebenserwartung der Geretteten bzw. deren Nützlichkeit für die Gesellschaft. Eine priorisierte Behandlung von Patient*innen entlang von Alter und Nützlichkeit ist nicht das Gleiche wie entlang von Überlebenschancen.

Es handelt sich hierbei um eine eklatante Verletzung von Menschenrechten. All dies vor dem Hintergrund, dass in Italien die neoliberale Privatisierung des Gesundheitswesens sehr viel weiter fortgeschritten ist als in Österreich. Diese Entwicklung ist brandgefährlich und sollte hierzulande Warnung genug sein, den Gesundheitssektor sowie allgemein die öffentliche Daseinsfürsorge nicht noch weiter umzuwandeln und an profitorientierte private Unternehmen zu übertragen.

1OECD Economic Outlook, Juni 2020, http://www.oecd.org/economic-outlook/june-2020/

2Siehe Fußnote 1

3Julia Bock-Schappelwein, Rainer Eppel, Ulrike Huemer, Walter Hyll, Helmut Mahringer, COVID-19-Pandemie: Rückgang der Beschäftigung und Anstieg der Arbeitslosigkeit halten im April an (COVID-19 Pandemic: Decline in Employment and Rise in Unemployment Continue in April), https://www.wifo.ac.at/jart/prj3/wifo/resources/person_dokument/person_dokument.jart?publikationsid=65983&mime_type=application/pdf

4Ingrid Mairhuber, Geschlechtsspezifischer Pensionsunterschied: erhöhter Handlungsbedarf durch Corona-Krise, 1. Oktober 2020, https://awblog.at/geschlechtsspezifischer-pensionsunterschied/

5SIAARTI, Klinisch-ethische Empfehlungen für den Einsatz und das Aussetzen intensivmedizinischer Behandlungen unter den außergewöhnlichen Umständen/Bedingungen eines Ungleichgewichts zwischen Bedürfnissen/Nachfrage und Ressourcen, 7. März 2020, zitiert nach: Cengiz Kulac, Distopische Potenziale. Triage und sozialdarwinistische Diskurse in der Coronakrise, in: Thomas Schmidinger, Josef Weidenholzer (Hg), Virenregime. Wie die Coronakrise unserer Welt verändert. Befunde, Analysen, Anregungen, bahoe books 2020

Kategorie: Materialien, Gutes Leben für Alle, Solidarität, Herrschaftskritik