Ein Vierkanter am Spittelberg - Artikel im Augustin 597 mit Aufruf zur Erinnerungssammlung zu 50. Jahren Amerlinghaus

Im Augustin 597 vom Mai 2024 gibt einen tollen Artikel von Lisa Bolyos zu unserem Kulturzentrum!

https://augustin.or.at/ein-vierkanter-am-spittelberg/

Wie der Augustin Boulevardzeitung feiern auch wir 2025 einen runden Geburtstag – und zwar schon den 50.!!!
1975 wurde das Amerlinghaus besetzt. Das Kulturzentrum im Amerlinghaus ist somit die am längsten existierende freie Kulturinstitution in Wien, die aus einer Besetzung hervorgegangen ist. Das werden wir 2025 gebührend feiern! Stay tuned! Und nicht vergessen: Augustin kaufen! Always alldays! >*_*<

Artikel:

1975 wurde das Amerlinghaus besetzt. Kurz vor seinem 50. Geburtstag ruft das Kulturzentrum in der Stiftgasse seine Nutzer:innen auf, in den Erinnerungskisten zu kramen.

Im Infobüro ist was los. Heute werden die frisch gedruckten ­Flyer mit dem Programm der ­nächsten ­Monate gefaltet, da helfen alle mit. Im Mai lädt die «Revolutionär Sozialistische Organisation» zu einer ­Diskussion über «Ungarn, Orbán und die Linke» ein, eine ­Pflanzentauschbörse der Initiative Kirchberggasse steht ebenso an wie der Workshop «Dehnen Strecken Kräftigen Lachen – Bewegung für Frauen im Alter». Das Amerlinghaus lebt! Und wird nächstes Jahr fünfzig.
Die Vielfalt und Verschiedenheit der Gruppen, die es nützen, ist es, was Göknur İşçi am besten gefällt. «Ein Bild davon hätte ich gerne, um fünfzig ­Jahre Amerlinghaus darzustellen.» Göknur İşçi arbeitet seit Herbst 2023 im Infobüro. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Lisa Grösel, Claudia Totschnig und Sabine Sölkner bereitet sie die Feierlichkeiten im kommenden Jahr vor. Alle Menschen, die das Amerlinghaus im letzten halben Jahrhundert genützt, erlebt und mitgestaltet haben, sind eingeladen, ihre Erinnerungen in Text, Bild, Video oder Archivmaterial zur Verfügung zu stellen (s. Infokasten). «Daraus wird ein Buch entstehen», erzählt ­Claudia Totschnig, die seit 2008 hier arbeitet. Geplant ist nicht eine lückenlose Chronologie des Kulturzentrums am Spittelberg, sondern eine Geschichte der vielen Besonderheiten.

Ein schönes Haus

«Das ist ein schönes Haus, das sollten wir besetzen», steht auf einem Plakat, das zwischen Dutzenden anderen die Bürowand ziert. Besetzt wurde der kleine Vierkanter in der Stiftgasse im Jahr 1975 – «zum ersten Mal», wie Lisa Grösel betont. Denn 1980 gab es dann noch eine Besetzung der Besetzung: Nicht alle waren damit einverstanden, wohin das Kulturzentrum Amerlinghaus sich bewegte. Von Anfang an war die «weiche», also durchaus akkordierte, Besetzung in Kommunikation mit der Stadt Wien passiert, das baulich desolate Gebäude war generalsaniert und 1978 dem Verein übergeben worden, blieb im Besitz der Stadt und wird bis heute von der Magistratsabteilung 13 subventioniert.
Das Besetzungsjahr 1975 lag in ­jener Zeit, in der die Stadt Wien laut mit dem Gedanken spielte, den Spittelberg zu schleifen. Heute ist der Stadtteil von Neubau offiziell bauliche Schutzzone, die putzigen Biedermeierhäuschen sind renoviert, die Mieten für Neuzuziehende unleistbar. Bis in die 1970er-Jahre aber ­lebte hier das ­Proletariat, Straßensexarbeit war möglich und wurde praktiziert, das Viertel hatte seinen Ruf weg – und die übliche Herangehensweise der Stadtpolitik war, seinen Abriss zu planen. Dagegen formierte sich erfolgreich Widerstand. Dessen sichtbares Überbleibsel: das Amerlinghaus.

Ein Foto von drei Mädchen

Drei Jugendliche vor dem Eingang des Kulturzentrums – dieses Foto (siehe S. 18) vom Amerlinghaus kennt man, wenn man das Amerlinghaus kennt. Aber wer sind die drei? Nina Horaczek vom Falter schickte das Bild im Newsletter der Wochenzeitung aus, und die Antwort kam postwendend: Ganz links, das ist (mit damaligem Namen) Bettina Weithofer, in der ­Mitte Felicitas King, rechts Carola Dertnig. Die eine lebt heute in Guatemala, die zw

eite ist tragischer Weise als Jugendliche in Wien an einer zu hohen Dosis Heroin gestorben. Mit Carola Dertnig, Performance-Künstlerin und Professorin an der Akademie der bildenden ­Künste, führe ich ein Telefonat über damals.
Als Karl Heinz Koller (1943 – 1995) Dertnig und ihre Freundinnen vor dem Amerlinghaus fotografierte, waren sie gerade zwölf Jahre alt. «Da war irgendein Theaterstück oder so», sagt Dertnig mit Verweis auf ein Detail, ein Plakat am Tor, «zu so etwas bin ich gern gegangen.» An den Fotografen erinnert sie sich gut. Er habe in einer großen, wilden, für die Kunstszene wichtigen Wohngemeinschaft in der ­Zieglergasse gewohnt. «In einem Zimmer, das von oben bis unten nur in Schwarz und Weiß gehalten war. Das hat mich irrsinnig beeindruckt als Kind.» Er habe viel im öffentlichen Raum fotografiert. Einen Teil seines Bild-Erbes kann man online sehen – aber eine ­Retrospektive, die der dokumentarischen Kraft seiner Wien- und Szenebilder gerecht wird, steht noch aus. Im 50-Jahr-Buch des Amerlinghauses werden sich wohl mehrere seiner Fotografien finden.
Dertnig ist in der Kunstszene groß geworden. Kurz vor dem Sommer der Besetzung am Spittelberg ­hatte ihre Mutter, ­Christiane Dertnig, nach fünf Jahren das Vanilla geschlossen – ein legendäres Künstler:innenlokal, das erst in der Strauch-, dann in der ­Hegelgasse residierte. Als Kinder und Jugendliche ­seien sie überall dabei gewesen, erinnert sich ­Dertnig: «Wir waren am Kindersamstag im Vanilla, sind zu Ausstellungen mitgekommen, und dann eben auch ins Amerlinghaus.» Die Vor- und ­Nachteile der vom Nachkriegsmief radikal befreiten Kindererziehung: früh selbstständig, immer auf sich allein gestellt. Mitbesetzt hätten sie nicht, aber in Diskussionen über die Hausnutzung seien sie eingebunden gewesen. «Ich erinnere mich an eine feministische Veranstaltung in diesem ersten Sommer, bei der meine Mutter war. Da hat ein Mann ­irgendein falsches Wort gesagt und ist sofort rausgeworfen worden. Da habe ich schon gestaunt.»

Fit trotz Krisen

Fast fünfzig Jahre, da haben nicht nur unendlich viele ­Menschen das Amerlinghaus für ihre ­Treffen und Veranstaltungen – oder, wie das 11 % K. Theater aus dem ­Hause ­Augustin, den Innenhof für Theateraufführungen – genutzt. Es ist auch eine Menge Energie in die Kämpfe zum Erhalt des Hauses geflossen. Zum Beispiel ab 2010, als die Förderung nicht mehr inflationsangepasst wurde und Gehälter und Infrastrukturkosten nicht mehr getragen werden konnten. Unter dem Slogan «Krise braucht Kultur» erstritt und er-demonstrierte man sich mit beeindruckend langem Atem den Erhalt des Kulturzentrums. Lisa Grösel, die seit 1999 Teil des Amerlinghauses ist und von dort heuer in Pension gehen wird, erzählt auf die Frage nach ihrer liebsten Erinnerung: «2010 wollten wir im Zuge der Proteste ein Straßenfest vor dem Burgtheater anmelden. Das sei wegen Lärmschutz nicht so einfach, hat uns die Polizei gesagt und hat stattdessen vorgeschlagen: Machts das doch am Rathausplatz!» Das Foto, das dort entstand, sei «ikonisch», sagt Claudia Totschnig. Und die Kampagne hatte letzten Endes Erfolg: Zwar mussten Kürzungen vorerst in Kauf genommen werden – aber die kolportierten Pläne der Stadt, das Amerlinghaus auszuhungern oder umzunutzen, wurden allesamt verhindert. Sodass nächstes Jahr eine fette Party steigen kann. Und das Amerlinghaus langsam aber sicher zum sozialen Kulturerbe der Stadt wird – ein Erbe, das lebt.

 

 

 

 

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